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Wie steht es um die Nachhaltigkeitstransformation der europäischen Industrie?

Im ersten Teil unseres MHP Industrie Pulscheck konnten wir feststellen, dass die europäische Industrie mit Kurszuwächsen aber unter erhöhter Volatilität durch die Krisenjahre 2019 bis 2021 gekommen ist. Gerade die deutschen Unternehmen aus dem MSCI Europe Industrials Index können Substanz bewahren, Liquidität erhöhen und Verschuldungsgrade abbauen. Doch wie steht es um deren Nachhaltigkeitstransformation? Dafür betrachten wir im nächsten Schritt die Operations-relevanten Nachhaltigkeitsleistungen hinsichtlich der Dimensionen Emissionen, Energieverbrauch und Mitarbeitende. Die Wahl der Indikatoren liegt in der aktuellen gesellschaftlichen Relevanz sowie der hohen Datenverfügbarkeit begründet. Auch hier gilt wie bereits in Teil 1: Die Indikatoren sind für die Bewertung einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsleistung nicht erschöpflich, vermitteln jedoch einen guten ersten Überblick.

Eins vorweg: In der vergleichsweise jungen Disziplin der Nachhaltigkeitsberichterstattung steckt noch erhebliches Optimierungspotenzial. Wer sich mit der Analyse von ESG-Daten befasst, stößt unweigerlich auf unvollständige, fehlende oder auch periodisch abweichende Angaben. Dies geht in der Regel zu Lasten von Transparenz und Vergleichbarkeit. Doch es gibt auch Lichtblicke: Einige Akteure glänzen durch hohe Berichtsqualität in Darstellung und Übersichtlichkeit.

Wie viel „Treibstoff“ bleibt noch für die Nachhaltigkeit?

Das Ergebnis: Die grüne Transformation kommt nicht zum Erliegen, benötigt aber deutlich stärkeren Rückenwind.

Neun der zehn im Index vertretenen (und von uns betrachteten) deutschen Unternehmen haben mittlerweile die Dringlichkeit eines ambitionierten Klimaschutzes erkannt.

Zudem die Verbindlichkeit beim Handeln für sich in konkrete Dekarbonisierungsziele übersetzt und diese in der Organisation verankert. Klare Aussagen in den Nachhaltigkeitsberichten belegen das. Im Zeitraum von 2019 bis 2021 sanken die Scope-1- und Scope-2-Emissionen allerdings lediglich um circa ein Prozent. Auf den tatsächlichen Fortschritt bei der industriellen Dekarbonisierung lassen sich daraus nur bedingt Rückschlüsse ziehen. Auf welche Weise temporäre Kriseneffekte wie stillstehende Anlagen und am Boden bleibende Transportflieger wirken, ist kaum ersichtlich. In jedem Fall ist klar: Der Rückgang um etwa ein Prozent ist deutlich zu wenig, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.

Um etwas über den konkreten Fortschritt sagen zu können, ist es zielführender, die CO2-Emissionen der einzelnen Unternehmen ins Verhältnis zu deren Umsatz zu setzen und dann die individuelle Leistung der Unternehmen periodisch zu bewerten. Entkoppelt vom Wachstum und anderen Änderungen in den Unternehmen gibt dieses Vorgehen Aufschluss darüber, wie emissionsintensiv das operative Geschäft (gemessen in Tonnen CO2 je 1 Million Euro Umsatz) ist und ob Verbesserungen im Zeitverlauf erkennbar sind. Hier überzeugten sieben der neun ausreichend berichtenden Unternehmen mit einer durchschnittlichen Reduktion ihrer CO2-Intensität um 28 Prozent im Zeitraum von 2019 bis 2021. Vor allem die Dekade bis 2030 wird zeigen, ob es gemeinsam mit politischen Entscheidungsträgern gelingt, die Weichen für eine dekarbonisierte Industrie zu stellen.

Im Bereich der Energie fällt das Ergebnis ernüchternder aus.

Die neun deutschen Industrieunternehmen berichteten für 2021 einen Energieverbrauch von circa 146.000.000 Gigajoule. Zum Vergleich: Das gesamte Land Luxembourg hat etwa 160.000.000 Gigajoule verbraucht. Um auch bei dieser Betrachtung Wachstumseffekte auszuschließen, haben wir den Energieverbrauch der einzelnen Unternehmen ins Verhältnis zu deren Umsatz gesetzt (gemessen in 1.000 Gigajoule je 1 Million Euro Umsatz). Nur drei der neun Unternehmen gelang es, die Energieintensität zu reduzieren und Energieeffizienzen von durchschnittlich 12 Prozent zu realisieren. In Anbetracht steigender Knappheit, Abhängigkeit und Kosten fossiler Energieträger werden Effizienzmaßnahmen sowie erneuerbare Energiequellen zum wiederentdeckten Wettbewerbsfaktor.

Ein sicheres und gesundheitsförderliches Arbeitsumfeld zählt zu den zentralen Aspekten der sozialen Dimension von Nachhaltigkeit in Industrieunternehmen. In den von Quarantänen geprägten Pandemiejahren haben die Unternehmen diesbezüglich eine beeindruckende Leistung abgeliefert – und das bei ohnehin dünner Personaldecke, erhöhter Fluktuation und verschärftem Fachkräftemangel. Alle Akteure konnten die bilanzierten Unfallraten in ihren Organisationen um durchschnittlich 16 Prozent reduzieren und somit organisationale Belastungen und Produktivitätsverluste begrenzen. Beeindruckend ist das vor allem deshalb, weil Menschen im Produktions- und Logistikumfeld besonders erhöhten Verletzungsrisiken ausgesetzt sind. In Kennzahlen ausgedrückt, lässt sich dies mit der Lost-Time-Injury-Frequency-Rate (LTIFR) bewerten. Hierbei werden Unfälle mit mindestens einem Tag Ausfallzeit auf die geleisteten Arbeitsstunden eines Mitarbeitenden umgelegt (in der Regel ca. 2.000 pro Jahr) und auf 100 Mitarbeitende hochskaliert. Wir werten das Ergebnis als Beleg für die Professionalität und Akribie der Unternehmen, mit der sie vermeidbare Gefahrenquellen identifizieren, beheben und Restrisiken minimieren.

Unser Fazit

Zusammenfassend stellen wir fest, dass sich die europäische Industrie mit achtbarem Erfolg durch die raue See der zurückliegenden Krisenjahre manövriert hat. Vor allem Unternehmen aus Deutschland machen einen soliden Eindruck und scheinen die Nachhaltigkeit nicht – wie eingangs vermutet – komplett über Bord geworfen zu haben. Dennoch steht derweil kaum ein anderes Thema mehr im Fokus der Öffentlichkeit als resiliente Lieferketten: Während bei der aufwendigen Verlagerung von Produktionsaktivitäten aus Übersee zurück nach Europa („Reshoring“) noch kaum Anzeichen für bedeutsame Umstrukturierungen im großen Stil sichtbar sind, haben Unternehmen intensiv damit begonnen, ihre Lieferantenbasis auszuweiten („Diversification“) oder kritische Lagerbestände aufzustocken („Inventory-to-Sales“).

In Sachen nachhaltiger Transformation wünschen sich viele Stakeholder vergleichbar ambitionierte Anstrengungen und Fortschritte. Hierfür benötigen Führungsetagen einen intakten Kompass, nach welchem auch in Krisenzeiten so mancher Zielkonflikt zwischen Operations Excellence und Sustainability Excellence ausbalanciert werden kann. Zur Veranschaulichung: Wenn einem Maschinenbauer in Deutschland der Anlagenstillstand droht, weil das Containerschiff mit Ersatzteilen im Hafen von Shanghai festsitzt, ist die Wahl der Luftfrachtalternative zwar alles andere als nachhaltig, aber dennoch wirtschaftlich notwendig und nachvollziehbar.

Das gewählte Beispiel stellt zwar eine Ausnahmesituation dar, illustriert aber den unbestritten langen Weg, bis Nachhaltigkeitskriterien in zentralen unternehmerischen Entscheidungsprozessen eine adäquate Gewichtung und Verankerung erhalten. Den kommenden Krisenmanager*innen wird mehr denn je bewusst: Selbst wenn alle gegenwärtigen Krisen morgen beendet wären, würden die grundlegenden Probleme der globalen Nachhaltigkeit nicht verschwinden. Unsere Empfehlung zur Orientierung lautet deshalb:

  1. Logbuch sichten: Welche entscheidenden Maßnahmen haben dem Unternehmen durch die Krise geholfen? Wo hätten wir konsequenter, schneller oder defensiver agieren sollen?
  2. Flagge zeigen: Mit welchen Werten und Prioritäten wollen wir langfristig durch zukünftige Krisen steuern? Worauf können sich die Stake- und Shareholder unseres Unternehmens verlassen?
  3. Kurs und Segel setzen: Wohin führt uns der langfristige Weg und Zweck? Welche Risiken können wir umschiffen? Welche Unwägbarkeiten wollen wir in Kauf nehmen? Wie kriegen wir eine konsistente Nachhaltigkeitsstrategie auch wirksam umgesetzt?

Unser Ansatz für die Transformation unserer Kunden

Autorin

Prof. Dr. Christina Reich

Manager, MHP

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